Was uns berührt, kann schwer mit dem Verstand erschlossen werden. Dazu bedarf es der Fähigkeit, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und sich innerlich zu öffnen.
Regina Schlager öffnet als Coach, Autorin und Podcast-Gastgeberin Räume, um in lebendigen, kreativen und achtsamen Kontakt mit sich selbst, anderen und der Welt zu kommen und aus dieser Verbindung heraus zu handeln. Sie studierte Germanistik und Philosophie in Wien und arbeitete 20 Jahre lang in Beratungsunternehmen im Informations- und Wissensmanagement und der Aus- und Weiterbildung. Regina Schlager lebt in Zürich.
Was hat Dich dazu bewogen, Dein Buch „Mutig mit dem Herzen führen: Gespräche mit Frauen, die ihre Berufung gestalten“ zu schreiben?
Im Herbst 2015 habe ich die Online-Berufungskonferenz abgehalten. Ich sprach fünf Tage lang per Konferenzschaltung live mit Frauen, die ihre Berufung gestalten und Tätigkeiten ausüben, die sie als bereichernd erleben.
Ich erlebte, dass sich sehr viele Zuhörerinnen und Zuhörer von den Lebensberichten und den konkreten Hinweisen und Übungen inspiriert und ermutigt fühlten. Daher wollte ich die Beiträge auch in Buchform zur Verfügung stellen. Ich reicherte die Gespräche durch einleitende Kapitel an, in denen ich die aus meiner Sicht wesentlichen Aspekte herausarbeite, die wichtig sind, um den eigenen Weg zu gehen.
Meine tiefere Intention hinter dem Buch ist, Frauen und Männern Impulse für die sinnvolle Gestaltung ihres Lebens zu geben. Und ich will damit ein neues Verständnis von Führung anregen: dass wir alle Führungskraft sind, wenn wir Verantwortung für unser Leben und unsere Arbeit übernehmen. Dabei wollte ich durchaus auch die Herausforderungen und Schwierigkeiten aufzeigen, die sich dabei zeigen.
Das Wort Berufung erscheint mir bedeutungsschwer. Es kann suggerieren, etwas Großes, Besonderes schaffen zu müssen. Was verbindest Du damit?
Für mich hat Berufung grundlegend mit den Fragen zu tun: »Wozu bin ich hier und wie will ich meine kostbare Lebenszeit verbringen?« Insofern ist es schon eine sehr bedeutungsvolle Frage – und eine zutiefst menschliche. Allerdings verstehe ich Berufung nicht in dem Sinne, etwas leisten oder vollbringen zu müssen, das in der jeweiligen Zeit oder Kultur als besonders oder groß gilt.
Ich habe jede meiner Gesprächspartnerinnen im Buch gefragt, was sie unter Berufung versteht. Da sind interessante Antworten zusammengekommen. Berufung bedeutet für mich, dass wir der Welt unsere Schönheit schenken. Jeder Mensch ist einzigartig. Du, ich, wir alle sind schon auf körperlicher Ebene keinem anderen Menschen gleich. Das zeigt sich etwa in unserer Stimme und in unseren Fingerabdrücken. Und niemand hat die gleichen Anlagen, Talente, Erfahrungen und Eigenschaften wie du selbst. Aus diesem Geschenk etwas zu machen, darauf kommt es an.
Schwierigkeiten ergeben sich meiner Erfahrung nach dann, wenn wir glauben, nur bestimmte Menschen hätten die Fähigkeit und auch das Recht, etwas Kreatives zu schaffen oder etwas Wertvolles beizutragen. In der Vergangenheit hat man nur Künstler, Priester oder Nonnen als berufen angesehen.
Ein zweites großes Hemmnis ist, Berufung mit Beruf gleichzusetzen im Sinne der Tätigkeit, mit der wir das Geld verdienen, das wir für den Lebensunterhalt benötigen. Das kann zusammenfallen, muss aber durchaus nicht. Ich verstehe diesen Wunsch, diese Sehnsucht sehr gut. Nur ist die Vorstellung, dass irgendwo ein Beruf auf uns wartet, der uns permanent in einem Hochgefühl taumeln lässt und plötzlich alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt sind, nicht gerade hilfreich.
Arbeit ist ja auch sehr vielschichtig, es gibt viele Formen von Arbeit und nicht nur Erwerbsarbeit. Sie betrifft unser gesamtes Sein und unser Tätig-Sein in der Welt.
Magst Du die Qualität mit dem Herzen führen näher erläutern?
Gleich vorweg, ich meine damit nicht: Sperre deinen Verstand in den Schrank und lass dich von deinen Gefühlen fortreißen ohne Rücksicht auf irgendwelche Umstände. Vielmehr spreche ich eine Haltung an, die Verstand und Gefühl in fruchtbare Beziehung bringt, anders ausgedrückt, die männlichen und die weiblichen Qualitäten in uns. Ich habe gelernt, das zu üben. Wie schaffe ich es, meine Gefühle weder wegzudrängen noch von ihnen überschwemmt und überwältigt zu werden? Und wie wird mein Denken kreativ und lebensförderlich?
Der Zugang zu meinem körperlichen Erleben war dafür ein Schlüssel für mich. Was mir sehr geholfen hat und mich weiterhin begleitet, ist Focusing und der von einem meiner Lehrer, Russell Delman, entwickelte integrierte Ansatz Embodied Life. Ich beschäftige mich auch immer mehr mit der Weisheit indigener Kulturen: Wir sind dann ganz, wenn wir die Qualitäten Kraft, Vision, Liebe und Weisheit in uns entwickeln und immer wieder in Balance bringen. Womit man hier arbeiten kann, ist der Organisationskompass von Birgitt Williams, der im Buch auch von einer der Frauen mit einer Übung vorgestellt wird. Dort haben die Qualitäten die Entsprechungen Führung, Vision, Gemeinschaft und Management, was im Unternehmenskontext zunächst meist annehmbarer ist.
Im Herzen spüren wir das, was uns wirklich wichtig ist, wofür wir Sorge tragen wollen und was uns Sinn gibt. Wir brauchen aber gleichzeitig die Kraft, die durch eine geerdete Standfestigkeit und eine gestärkte Mitte kommt sowie die Klarheit und Ausgerichtetheit unseres Verstandes. Schaffen wir es, all das zu integrieren, dann gelingt es uns, Führung für uns und unser Leben zu übernehmen und dann auch wirklich Schritte zu setzen, die stimmig sind.
Inwieweit kannst Du Deine Berufung leben?
Meine Bestimmung oder Lebensaufgabe nehme ich als Ahnung wahr, in der große Gewissheit liegt. Ich meine, dass das auch eines der Wesensmerkmale von Berufung ist: Dass sie viele Formen annehmen kann im Laufe des Lebens, es allerdings so etwas wie eine Essenz gibt, die gleich bleibt. So, wie sie sich in meinem Leben gerade zeigt, spüre ich eine große Bestärkung, auf dem für mich richtigen Weg zu sein. Insofern sage ich: Ja, ich kann meine Berufung leben!
Was hat mir dabei geholfen? Bei mir war es ein langjähriger, intensiver Prozess des Forschens und Erkundens, der weiterhin andauert. Ich habe mich damit beschäftigt, was ich brauche, worin meine Stärken liegen, was meine Sehnsüchte sind und mir wirklich wichtig ist. Und ich habe mir dabei auch Hilfe geholt. So hat mir Coaching sehr geholfen. Und ich bin mit weiteren Methoden in Kontakt gekommen, die es mir ermöglichen, mich selbst kennenzulernen mit all meinen Stimmen und Seiten, auch den sogenannten Schattenseiten, und in meine Kraft zu kommen.
Ich war lange Jahre sehr schüchtern. Es trifft vieles auf mich zu, was genannt wird, wenn von Hochsensibilität gesprochen wird. In meinen jungen Jahren war das ein großes Problem für mich. Dann habe ich erkannt, dass in meinem stillen Wesen auch eine besondere Gabe liegt. Und indem ich mich selbst darin angenommen habe, konnte ich mich plötzlich mehr und mehr öffnen. Jetzt will ich meiner Stimme auf die mir gemäße Art Ausdruck verleihen: Mich nicht verstecken und nicht das zurückhalten, was ein wichtiger Beitrag sein kann.
Berufung sehe ich nicht als rein individuelles Thema. Ich rege in meinem Buch daher auch meine Leserinnen und Leser an, sich zusammenzutun, voneinander zu lernen und Erfolgserlebnisse, aber auch Ängste und Zweifel zu teilen. Vieles, was wir als persönliches Problem sehen, ist eingebunden in gesellschaftliche Zusammenhänge.
Wie wichtig sind Dir Erfolg und Status im Beruf?
Erfolg ist meines Erachtens nichts Objektives. Ich rege die Menschen, die mit mir arbeiten, daher auch immer dazu an, zu erkunden, was Erfolg für sie ganz individuell bedeutet. Wir tragen da meist viele Glaubenssätze mit uns herum. Ich selbst fühle mich erfolgreich, wenn ich kreativ sein kann: Damit meine ich, dass ich mich nicht in einer passiven Opferrolle fühle, sondern meine Gestaltungskraft spüre. Ich fühle mich erfolgreich mit der Arbeit, die ich mache. Ich kann meine Stärken und Talente leben, sie auch weiterentwickeln, bin mit Menschen in wertschätzender Beziehung. Immer wieder erhalte ich die Rückmeldung, dass ich jemandem geholfen habe, Dinge neu zu sehen und entscheidende Schritte zu setzen.
Laut Duden bedeutet Status einen Stand oder eine Stellung in der Gesellschaft oder einer Gruppe. Das sind ja zwei sehr körperliche Ausdrücke. Für mich bedeutet es, einen Standpunkt zu beziehen, Stellung zu nehmen und für das einzustehen, was mir wirklich wichtig ist. In diesem Sinne ist mir Status sehr wichtig.
Erfolg wird meiner Beobachtung nach meist mit finanziellem Erfolg verknüpft. In meiner Anstellung habe ich mehr verdient, als ich das derzeit tue. Ich beschäftige mich sehr mit der Geldthematik. Neulich habe ich dazu den Blogartikel Geld, Mangel und Fülle – dem blinden Fleck auf der Spur veröffentlicht. Da waren bei mir sicherlich lange Zeit tiefsitzende Glaubenssätze mit im Spiel wie »Ich bin nicht gut genug«, »Ich habe nicht wirklich etwas zu sagen«. Die Selbständigkeit als Arbeitsform zeigt sich für mich hier als intensive Lebensschule.
Ja, es ist wichtig, sich mit den eigenen Glaubenssätzen auseinanderzusetzen, die einen glauben machen, man verdiene es nicht, für seine Arbeit auch Geld zu verdienen. Und gleichzeitig möchte ich auch systemische Zusammenhänge in den Blick nehmen: Wie funktioniert unser Geldsystem eigentlich? Welche Auswirkungen hat es? Und welche Alternativen gibt es? Ich möchte bei neuen, lebensförderlichen Wirtschaftsformen mitwirken.
Was können aus Deiner Sicht erste Schritt sein, um sich beruflich wohler/selbstbestimmter zu fühlen?
In einem ersten Schritt kann man sich fragen, was man braucht, damit es einem so richtig gut geht. Worin liegen die eigenen Kraftquellen? Ich lade dazu ein, diese Erkundung nicht rein auf das momentane berufliche Umfeld zu beziehen, weil man da schnell das Gefühl hat: »Ja, aber da kann ich meine Bedürfnisse eben nicht erfüllen«. Dann kommt man beispielsweise auf Dinge wie regelmäßige Bewegung, Entspannung, Natur.
Man kann dann weitergehen: Wie kann ich das jetzt ganz konkret in meine Arbeitssituation hineinbringen? Welche Möglichkeiten habe ich? Wo liegt mein Gestaltungsspielraum? Wenn mir der Kontakt mit der Natur wichtig ist, könnte ich in meinem kahl und kühl wirkenden Büro eine Zimmerpflanze aufstellen. Wenn ich mehr Bewegung und Gelassenheit möchte, könnte ich darauf achten, regelmäßig kleine Pausen einzulegen und in der Mittagspause einen kurzen Spaziergang machen. Ich könnte mehr auf meine Grenzen achten und vielleicht einmal zu einem Arbeitsauftrag kurz vor Feierabend ein offenes und klares Nein sagen.
Das löst natürlich nicht alle Umstände, die mich im Arbeitsalltag stören und auch belasten, zeigt mir aber, dass ich Verantwortung für mein Wohlbefinden übernehmen kann. Das ist eine sehr stärkende und ermutigende Haltung, die dann meist zu weiteren Veränderungen führt.
Veränderung bedarf Mut und beinhaltet Unwägbarkeiten. Wie gehst Du mit Unsicherheit um?
Zunächst gehe ich davon aus, dass Veränderung immer mit Unsicherheit verbunden ist. Ich weiß eben nicht genau, was dabei herauskommt. Das nimmt mir den Druck, der aus der Erwartungshaltung kommt, es müsse alles immer leicht sein und sich gut anfühlen und wenn nicht, dann ist etwas nicht richtig mit mir.
Unsicherheit ist für mich körperlich spürbar. Ich nehme wahr, wie genau sie sich zeigt. Ich höre hin: Da ist vielleicht ein Spannungsgefühl in meinem Magen. Ich versuche, mit meiner Aufmerksamkeit bei diesem Ort zu bleiben ohne den innerlichen Befehl: »Geh weg!«. Allein durch diese offene, warmherzige Aufmerksamkeit löst sich etwas. Das ist körperlich spürbar. Und aus dem heraus wächst auch ein nächster Schritt.
Welche Bedeutung hat Achtsamkeit für Dich?
Achtsamkeit ist für mich sehr wichtig. Sie hilft mir in eine Haltung hineinzuwachsen, mit der ich mir selbst, anderen und der Welt begegne. Sie beinhaltet für mich mehrere Aspekte. Ich trete einen Schritt beiseite und kann dadurch meine Gedanken, Gefühle und Empfindungen mit ein wenig Abstand beobachten. Dann bin ich nicht mehr hilflos darin verstrickt. Für mich kommt ganz wesentlich eine Qualität der Freundlichkeit und Warmherzigkeit hinzu. Achtsamkeit ermöglicht mir, im Moment wirklich da zu sein, ganz wach und präsent.
Es gibt Hilfsmittel, mit denen ich das üben kann. Meiner Ansicht nach gibt es hier kein Richtig oder Falsch, da hat jeder die Freiheit, das für sich Passende zu finden, und das wird sich im Laufe der Zeit womöglich auch wieder ändern. Für mich ist das seit einigen Jahren unter anderem eine tägliche Mediationspraxis mit Sitz- und Gehmeditation. Ich sehe das als Übungsrahmen, um diese Qualität der Präsenz dann in den Alltag hineinzutragen. Achtsamkeit endet für mich nicht auf dem Sitzkissen.
Mein Übungsfeld ist dann auch ganz konkret der Alltag: Kann ich wirklich ganz da sein, wenn ich das Geschirr abwasche? Wie schmeckt das Radieschen, in das ich gerade beiße? Nehme ich den Geschmack überhaupt wahr oder bin ich gedanklich ganz woanders? Und welche Reaktionsmuster zeigen sich, wenn ein SMS hereinkommt: Schaue ich dann sofort auf den Handy-Display und fühle mich dabei innerlich getrieben? Was ist, wenn ich eine kurze Atempause einlege, bevor ich die Nachricht anschaue? Oder vielleicht stelle ich mein Handy eine Zeitlang überhaupt ab und beobachte, was das mit mir macht?
Woraus schöpfst Du Kraft?
Was mir da als erstes ganz spontan in den Sinn kommt, ist die Natur. Ich habe das Glück, von zuhause aus in 15 Minuten in einem Wald zu sein. Sobald ich dort bin, spüre ich eine innere Weite. Nach einem Waldspaziergang fühle ich mich zumeist erfrischt und gestärkt.
Dann gibt es sonst noch Einiges. Kraft spenden mir inspirierende Begegnungen mit Menschen, das kann ein Gespräch mit einer Freundin sein, eine Coachingstunde oder ein Courage Circle. Eine große Quelle der Kraft ist auch die Beziehung mit meinem Mann.
Und als letztes, damit es nicht eine zu lange Liste wird, möchte ich Dankbarkeit nennen. Ich achte darauf, meinen Tag mit einem Danke zu beginnen und vor dem Schlafengehen rückwärts durch den Tag zu gehen und mir die Momente zu vergegenwärtigen, die mich berührt haben. Da wird mir dann jedes Mal bewusst, welche Edelsteine meinen Weg säumen und wie kostbar das Leben ist.
Welche Gedanken kommen Dir bei den Worten von Kurt Haberstich „Wo Gegensätze sich berühren, beginnt die Vorstellungskraft.“?
Wenn Gegensätze sich berühren, sind es keine Gegensätze mehr. Dann gibt es Berührungspunkte, dann ist eine Verbindung geschaffen. Für mich geht es immer mehr um dieses Verbindende. Wir sind keine isolierten Einzelteile in einer uns feindlichen Welt. Wir sind eingebunden in ein lebendiges Netz. Wir beginnen erst zu ahnen, wie komplex die Zusammenhänge sind. Und welche Schönheit darin liegt. Mehr noch als verstehen will ich mich immer wieder berühren lassen und staunen.
Da, wo ich jetzt stehe, erkenne ich, dass es in meinem Leben und meiner Arbeit letztlich um die Frage geht: Was bedeutet es, wirklich Mensch zu sein, wirklich menschlich? Ein Wort, das mir dabei besonders in den Sinn kommt, ist Respekt: Respekt anderen Menschen gegenüber, aber nicht beim Menschen stehenzubleiben, sondern diesen grundlegenden Respekt auch auf andere Lebewesen und die Erde auszudehnen.