Die Reise nach Innen ist keine Autobahn. Es bedarf viel Geduld und Mut, sich besser kennen zu lernen. Vor allem, wenn sich schmerzhafte Erfahrungen unserem Bewusstsein entziehen.
Prof. Dr. Franz Ruppert ist Hochschullehrer für Psychologie an der Katholischen Fachhochschule München, psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in München, Autor und Begründer der Identitätsorientierten Psychotraumatherapie, die auf dem Verfahren „Identitätsaufstellungen mit der Anliegenmethode auf der Basis der Identitätsorientierten Psychotraumatheorie (IoPT)“ fusst.
Was ist die Aufgabe der menschlichen Psyche?
Die menschliche Psyche ist dazu da, um einen Menschen mit der Realität in der Außenwelt und in seiner Innenwelt zu verbinden. Das geschieht unbewusst und bewusst und auf verschiedenen Kanälen sequentiell und parallel: dem Spüren, dem Wahrnehmen, dem Fühlen, dem Vorstellen, dem Denken, dem Wollen, dem Erinnern und dem Ich.
Die Psyche eines Menschen ist immer selektiv, d.h. sie filtert, was für diesen Menschen bedeutsam ist (z.B. die Laute und Worte beim Erlernen der Muttersprache), sie ist adaptiv in Bezug auf die jeweilige natürliche und soziale Umwelt, sie ist kreativ, d.h. sie kann etwas erschaffen, was es zuvor noch nicht gegeben hat (z.B. eine neue Erkenntnis). Die Psyche ist der Ausgangspunkt für unser Handeln und unsere Lebenspraxis.
Wie wirkt ein Trauma?
Ein Trauma ist eine Lebenserfahrung, die der menschliche Organismus nicht verarbeiten und verstoffwechseln kann. Auf der körperlichen Ebene wären das vor allem physikalische und chemische Energien, die Körpersubstanzen zerstören können.
Auf der psychischen Ebene sind das vor allem Erfahrungen mit anderen Menschen, die uns überfordern. Dazu gehören u.a.: psychische Gewalt, von den eigenen Eltern abgelehnt und nicht geliebt werden, von einem Partner belogen und betrogen werden. Daher spreche ich hier von einem Psychotrauma.
Gibt es bestimmte Merkmale, die auf ein Trauma hinweisen?
Psychotraumata merken wir an chronischen körperlichen Beschwerden, an unlösbaren Beziehungskonflikten, an wiederkehrenden Konflikten im Arbeitsleben, an psychischen Problemen wie z.B. übermäßigen Ängsten, nicht steuerbare Wut, Liebesillusionen, Unklarheit in Bezug auf sich selbst, fehlendem Willen und fehlender Lebensfreude.
Da ein Trauma eine unerträgliche Realität darstellt, muss diese Realität durch psychische Gegenprogramme negiert werden. D.h. sie wird unbewusst gemacht, betäubt, verdrängt und verschleiert. Das ist die Aufgabe der Trauma-Überlebensstrategien. Ein Mensch mit einer Traumaerfahrung hat daher drei verschiedene psychische Strukturen in sich: gesunde Anteile, traumatisierte Anteile und Trauma-Überlebensanteile. Zwischen diesen Strukturen sind Blockaden errichtet, so dass sie miteinander nicht im Austausch stehen.
Welche Arten von Trauma gibt es?
Ich gehe vom Konzept der Traumabiographie aus. Das Basistrauma nenne ich das „Trauma der Identität“, d.h. ein Mensch hat den Bezug zu sich selbst verloren und weiß nicht, was er selbst will. Er ist dann stets auf das Außen orientiert.
Dadurch landet er in seinen nahen Beziehungen in der nächsten Art von Trauma, dem „Trauma der Liebe“. D.h. er definiert und identifiziert sich nun über seine Beziehungen („mein Mann“, „meine Frau“, „meine Kinder“, „meine Familie“ …). Dadurch hat er zu hohe Erwartungen an andere und will es anderen recht machen. Er verliert sich in seinen Beziehungen, die dann meist Beziehungen mit anderen sind, die ebenfalls in einem „Trauma der Identität“ stecken.
Vom „Trauma der Liebe“ kann es dann leicht zu einem „Trauma der Sexualität“ kommen, weil dann die Sexualität dafür benutzt wird, um Nähe und Liebe zu erhalten und Sexualität als Traumaüberlebensstrategie eingesetzt wird, um z.B. die eigene innere Leere zu überspielen oder Stress kurzfristig abzubauen.
Die Traumabiographie wird in vielen Fällen dadurch angereichert, dass die Opfer von Trauma leicht zu Tätern werden, die andere Menschen traumatisieren. Z.B. eine Mutter, die als Kind nicht geliebt und vernachlässigt wurde, ist oft nicht in der Lage, ihrem eigenen Kind die Liebe und den Körperkontakt zu geben, die das Kind für seine gesunde Entwicklung braucht. Oder ein Mensch, der körperliche oder sexuelle Gewalt erleben musste, reinszeniert diese Erfahrungen im Kontakt mit anderen Menschen. Diese Art von Traumata nenne ich das „Trauma der eigenen Täterschaft“.
Können sich Traumatisierungen aus vorigen Generationen auf unser heutiges Leben auswirken?
Ja, z.B. die traumatisierenden Erfahrungen, die Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern im 2. Weltkrieg gemacht haben, werden zum Ausgangspunkt für deren Kinder und so zieht die Elterngeneration die Kindergeneration in ihre Trauma-Überlebensstrategien hinein und traumatisiert sie auf diese Weise.
Kann ein Trauma alleine gelöst werden?
Da wegen der Spaltungen nahezu niemand erkennt und erkennen kann, dass und wie er traumatisiert ist oder andere Menschen traumatisiert, ist dafür die Aufklärung und Unterstützung von Menschen notwendig, die sich mit Psychotraumata auskennen und wissen, wie man einen Ausstieg aus einer Traumabiographie hinbekommt. Von alleine schafft das meiner Erfahrung nach niemand.
Welche Möglichkeiten gibt es, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten?
Es gibt mittlerweile viele Angebote, wie z.B. EMDR, Somatic Expierencing, Brain Spotting. Ich selbst habe die Aufstellungsmethode zu einer Therapieform entwickelt, mit der Traumata erkannt und aufgearbeitet werden können. Ich nenne meinen Ansatz „Identitätsorientierte Psychotraumatheorie und –therapie“ (IoPT).
Wie ist die Dynamik von Aufstellungen zu erklären?
Der Ausgangspunkt für eine eigene Aufstellung ist bei mir das Anliegen. Das kann ein ganzer Satz sein, es können einzelne Worte, eine Zeichnung oder deine Kombination von Worten und Zeichnung sein. In jedem Anliegen steckt das, was die betreffende Person im Moment als ihr Problem wahrnimmt und worin sie sich eine Lösung des Problems verspricht. Ob das dann so ist, zeigt der Aufstellungsprozess.
Für mich ist wichtig, dass die aufstellende Person ihr Anliegen ohne Fremdbeeinflussung findet, also auch ohne Tipps oder Hinweise von mir als therapeutischem Begleiter. Nur dann haben die Anliegen das Potential, den Betreffenden einen inneren Schritt weiter zu bringen. Würde ich mich in das Finden des Anliegens einmischen, bestünde die Gefahr, dass ich mich mit dem Aufstellenden verstricke oder dass ein Anliegen zustande kommt, das zu einer Retraumatisierung dieses Menschen führen könnte.
Inwiefern unterscheidet sich Ihre Methode der Aufstellungen von den Familienaufstellungen nach Hellinger?
Bei mir ist die betreffende Person und ihre Identität der Bezugspunkt der therapeutischen Arbeit, daher verwende ich auch den Begriff „Identitätsaufstellungen“ und nicht Familien- oder Systemaufstellungen. Oft ist es für die Menschen ratsam, sich allmählich aus einer Familie zurückzuziehen, die ihnen fortlaufend traumatische Erfahrungen beschert oder immer von neuem alte Wunden aufreißt, selbst wenn ihre kindlichen Symbiosewünsche sich noch immer nach Mama und Papa sehen.
Was ist das Ziel Ihrer Arbeit?
Zur Einheit von Körper und Psyche zurückzufinden, welche durch traumatisierende Lebenserfahrungen verloren gegangen ist. Dazu ist im ersten Schritt notwendig, die eigenen Überlebensstrategien zu erkennen und aus dem Stressmanagement auszusteigen, die eigenen Traumagefühle zu unterdrücken.
Dadurch kommt jemand wieder mehr in den Bereich seiner gesunden Anteile und erkennt, wie wichtig sein eigenes Ich und sein eigener Wille ist.
Ist die Stabilität auf der Identitätsebene groß genug, kann ein Mensch die verschlossenen Türen öffnen, hinter denen er seine traumatisierten Anteile (oft sind das Kinder in verschiedenen Altersstufen) weggesperrt hat. Dann gewinnt er etwas sehr Wertvolles zurück: sich selbst und sein authentisches Fühlen, seinen vollen Lebenswillen und seine ganzen Lebensenergien.
Homepage Prof. Dr. Franz Ruppert
Vortrag Trauma, Angst und Liebedentitäts