Wir wünschen uns im Leben Freude, Leichtigkeit und Erfolg. Unangenehme Seiten wie Traurigkeit, Einsamkeit und Krankheit dürfen gerne außen vor bleiben. Verwundetes Leben findet hinter geschlossenen Türen statt. Dort wo uns nach Möglichkeit niemand sieht.
Lange Zeit ging ich meine Ziele voller Tatendrang und Enthusiasmus an. Mit Begeisterung, Ausdauer, Geduld und Willenskraft schien mir alles erreichbar. Das ist ein schönes Gefühl. Aufzubrechen, um die Welt zu entdecken. Bis ich plötzlich aus meinen Träumen gerissen wurde.
Die große Leere
Ein Schatten legte sich über mein Erleben. Das Lachen, die Freude wurden weniger. Die Traurigkeit nahm zu. Zuerst war ich erstaunt. Die Veränderung kam schleichend und doch unaufhaltsam. Ich spürte eine Leere, in der alles zu versinken schien. Ein schwarzes Loch, in dem meine Lebensfreude versank.
Ich führe ein reiches Leben. Reich an Sinn, reich an Hobbys, reich an Menschen, reich an Aufgaben, reich an Wohlstand. Dennoch diese große Leere in mir. Kann das sein? Darf das sein? Bin ich vielleicht nicht dankbar genug? Was habe ich verkehrt gemacht?
Glücklich sein, ist zu einem Ideal geworden
Die vielen Ratgeber machen glauben, wir brauchen nur richtig zu denken. Dann werden wir glücklich. Denken sie positiv! Versetzen sie mit ihrem Willen Berge! In der omnipräsenten Werbung werde ich mit strahlenden Menschen konfrontiert. Seminare versprechen, ich muss nur mein Potential entfalten, um glücklich zu leben.
Licht bedeutet nicht, dass es keine Nacht mehr gibt, sondern dass die Nacht erhellt und überwunden werden kann. – Heinrich Fries
Doch ist das Leben wirklich so simpel? Gehören die als unangenehm empfundenen Seiten vielleicht doch dazu? Ist das Leben vielleicht weniger planbar als erhofft? Gibt es womöglich Momente der Ohnmacht, Phasen, in denen wir die gewünschte Kontrolle verlieren?
Verwundetes Leben
Als ich das erste Mal am Boden lag, spürte ich, wie schal Ratschläge wirken können. Wenn die Kraft nachlässt, die Träume sich in Luft auflösen, beginnt eine andere Zeitrechnung. Wenn der Körper seinen Gehorsam versagt, greifen die alten Strategien nicht mehr. Plötzlich werden viele Dinge anstrengend. Sehr anstrengend.
Mit schwierigen Gefühlen wie Einsamkeit, Angst und Hoffnungslosigkeit umzugehen, habe ich mit der Zeit gelernt. Das heißt nicht, dass sie für mich ihren Schrecken verloren haben. Es bedeutet viel mehr, sie sind mir vertraut. Ich kann ihnen anders begegnen.
Viel gravierender empfinde ich die Kraftlosigkeit. Mit der inneren Leere umzugehen, ist für mich bereits eine Herausforderung. Trotzdem weiter zu gehen, mich immer wieder aufzurichten. Ohne Energie wird selber das zur Farce. Wenn einfache Tagesabläufe mich erschöpfen, wächst die Angst, irgendwann nicht wieder aufstehen zu können.
Der Weg nach Innen
Woher kommt diese Leere? Was kann ich tun, damit es mir besser geht? Wie lange wird die Dunkelheit dauern? Das Schwierige an einer Depression ist, dass es dafür oftmals keine befriedigende Antwort gibt. Zumindest keine schnelle. Doch wie begegne ich etwas, was keinen Bezug hat? Keinen Anfang, kein Ende?
Ich versuche, Kontakt zu meiner inneren Leere aufzunehmen. Wahrnehmen und spüren was ist, ohne dauerhaft in den Gefühlen zu versinken. Aber auch nicht auszuweichen. Das ist ein schmaler Grad. Was in mir kann nicht mehr? Was steht hinter der Leere?
Mich zumuten
Mir ist wichtig, meinem Umfeld zu zeigen, wie es mir geht. Die Maske fallen zu lassen, mich anderen zumuten. Das ist keine einfache Übung und kostet Überwindung. Gefühle der Scham, der Wertlosigkeit, breiten sich aus. Mich in dieser Verletzlichkeit zu öffnen, ist ungewohnt.
Wenn ich Nein sage zu meiner gegenwärtigen Situation, wenn ich nicht mehr mitfliesse, dann beginnt das Trauma. – Fred Gallo
Kontakt beinhaltet die Bereitschaft, mich zu zeigen. Ohne den Kontakt zu meiner Umwelt würde ich weiter vereinsamen. Ja, ich bin in schwierigen Situationen sogar darauf angewiesen. Wenn der innere Duck zunimmt, dann bekommt Hilfe eine andere Bedeutung.
Durch eine Wunde kann auch Licht eintreten
Weiterentwicklung bedeutet auch, etwas zurückzulassen. Ich darf akzeptieren, dass es nicht mein Weg ist, zu bekommen, was ich mir momentan erträume. Vielleicht führt mich die Reise an Orte, die ich mir heute nicht vorstellen kann.
Verwundetes Leben lässt das Sein in einem anderen Licht erscheinen. Meine Wahrnehmung, meine Empfindsamkeit verändern sich. Die seelische Not ist der Beginn einer Reise nach Innen. Da gilt es, so einige Vorstellungen loszulassen. Mehr Mitgefühl mit sich und anderen zu entwickeln. Mich von Gedanken der Kontrolle zu verabschieden.
Die Entdeckung der Langsamkeit
Was im Leben zählt, bekommt eine andere Bedeutung. Die Wertigkeit verschiebt sich. Plötzlich wird das Morgen nicht mehr so wichtig, weil es schon anstrengend genug ist, das Heute zu leben. Was mich trägt, ist das Einlassen auf den nächsten kleinen Schritt. Ich suche nicht mehr nach einer großen Lösung. Es geht nun viel mehr um den Augenblick.
Leben beinhaltet auch, Leid zu erfahren. Daran ändert weder das positive Denken etwas, noch die ganzen gute Laune Gurus. Die Frage ist, wie ich dem Leid begegnen kann. Nicht, wie man dem Leid begegnen sollte, nicht irgendwelche Pauschalisierungen. Jeder steht mit seinen Erfahrungen an einem besonderen, einzigartigen Punkt im Leben. Deshalb kann jeder von uns diese Frage nur für sich selbst beantworten. Gemäß seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten.
Verwundetes Leben heilen, bedeutet für mich, wieder bei mir anzukommen. Das ist mitunter kein einfacher Weg. Doch gibt es eine Alternative dazu?